Warten auf Othello

Ein Märchen von Mireille Gaglio

gewidmet den Landseer von der Schwanenburg mit einem kleinen Zwinkern an Dagmar und Jürgen Kapic

Das Jahr hatte schlecht angefangen. Papa war Weihnachten gestorben und zu diesem enormen Verlust kam noch einer hinzu. Nach fast zwölf Jahren Liebe und Treue war unser alter, kuscheliger Hund, Balou, aus dem Leben geschieden und hatte uns sehr allein gelassen. Sein Tod, der Tränenflüsse hervorgerufen hatte, ermöglichte es mir, den ganzen zurückgehaltenen Kummer, der Papas Ableben verursacht hatte, ein wenig herauszulassen. Ich hatte damals nicht geweint, da ich wohl wusste, dass eine einzige Träne eine unkontrollierte Lawine in meinem Herzen ausgelöst hätte. Der Tod meines alten vierbeinigen Freundes hatte mir also ein gewisses Gleichgewicht wiedergegeben, selbst wenn die Lücke jeden Tag ein wenig größer wurde… Ich ging in den Garten, wo mein Freund und seine zwei Vorgänger ruhen, und wir haben Rat gehalten. Meine drei Freunde haben sehr gut verstanden, dass deren Platz im Haus nicht unbesetzt bleiben sollte, denn sie wussten, dass sie in meinem Herzen unsterblich bleiben würden. Sie haben mir aber gesagt, dass im Gegensatz zu Papa, der einmalig und unersetzlich bleiben würde und durch die Erinnerung in mir weiterleben würde, sie selbst in Form eines Welpen, den wir adoptieren würden, wiedergeboren werden könnten…Da dieser Kleine etwas besonderes sein sollte, müssten wir auf dessen Geburt warten. Nur eins wussten wir: Sein Name sollte mit „O“ anfangen. Da ich Musik liebe und momentan Ave Maria von Desdemona in Verdis Othello lerne, war sein Name leicht gefunden: er sollte Othello heißen. Und das große Warten hat begonnen: wir warteten oder besser gesagt ich wartete auf Othello…

Wir haben seine Stadt und seine Familie besucht. Seine Tanten und seine Mutter haben uns gefeiert!!! Aber dort, auf einem Regal sah ich ein Fotoalbum und fing an, darein zu blättern. Aber je mehr ich blätterte, umso mehr gewann ich den Eindruck, in eine völlig andere Welt zu tauchen. Plötzlich hörte ich eine Stimme: „Macht Platz! Da kommt Actrice, die große, wunderbare Schauspielerin!“. Und ich sah eine wundervolle weiße Hündin mit einem weichen und seidigen Fell kommen, umgeben von ihren Bewunderern. Sie versuchte vergeblich, ihre Fans loszuwerden. Ein wenig weiter sagte die neckische Coquette: „Wenn ich an ihrer Stelle wäre, gäbe ich ihnen Autogramme. Ich wäre so gern ein Star!“. Gigolo seinerseits versuchte die Aufmerksamkeit all der Damen auf sich zu lenken und mit ihnen zu flirten: Zugegeben wirkte er sehr vornehm mit seinem langen, gepflegten Fell und seinem schelmischen Aussehen… Die Konkurrenz aber schlief nicht: Der schöne Leopold war beim Frisör gewesen und trug ein erstklassiges Fell stolz zur Schau. Lucius hoffte, die Dame seiner Träume zu treffen, er war aber ein wenig schüchtern… Man muss dabei sagen, dass er sich in die große, wunderschöne Kea verliebt hatte. Was Filou anging, so nutzte er den Andrang um Actrice aus, um sich Halsbänder und Ketten der Gaffer zu „leihen“! Wie gewöhnlich träumte Nanouk: Gerade erklärte er Candida, dass er so gern Forschungsreisender gewesen wäre, er wollte schon immer Weißbären, Polarfuchse sehen… Ein wenig abseits diskutierte Comtessa mit der berühmten Landschaft-Architektin Nova-Sophie. Letztere hatte es zum Ruhm gebracht, indem sie die Grünanlagen ihres Domizils völlig umgestaltet hatte. Inmitten der Bewunderer Actrice suchte der brave, nette Garvin jemanden, dem er helfen konnte. Als seriöser, fleißiger Pfadfinder sollte er jeden Tag mindestens eine gute Tat vollbringen! Seine Kollegen Maja und Franjo machen es ähnlich: Sie patrouillieren an den Stränden und „helfen“ jedem, der sich zu nah ans Wasser wagt! Die schöne Lady Fenella verstand diesen Rummel rund um Actrice nicht! Großer Gott, wenn die Leute Augen im Kopf haben, dann sollten sie wohl merken, dass sie sicherlich mindestens so schön war und dazu noch so fein und distinguiert, Pardon! vornehm, man kann doch Deutsch!!! Tatsächlich waren diese Damen alle leicht auf einander eifersüchtig, denn alle waren mehr oder weniger in den schönen und starken Caius verliebt, der einigen von ihnen schon seine Gunst geschenkt hatte… Die amtliche Favoritin war zurzeit die bescheidene Grandezza, die unter ihrem Herzen den lebendigen Beweis davon trug… „Ah!“ Seufzte Kea, „wenn ich es wäre!“. „Keine Sorge!“ antwortete Caprice, die ein wenig beleidigt war, weil Caius sie hatte fallen lassen, nachdem sie ihn verschmäht hatte. „Er sucht immer nach frischem Fleisch! Er wird Dich wohl eines Tages entdecken, wenn er Grandezza mit ihrer Scheinheiligkeit überdrüssig wird! Und wenn nicht, dann kannst Du immer noch Lucius nehmen: Dieser Kleine ist doch gar nicht so schlecht!“

Ah! Grandezza! Zugegeben war sie für ihre Adoptionen berühmt: Sie hatte „Glöckchen“, die Ziege, groß bekommen. Seitdem war diese ein wenig daneben… Sie hielt sich für eine Hündin und hatte sogar versucht, Caius zu verführen… allerdings ohne Erfolg… Grandezza hatte auch eine winzige Füchsin angenommen, deren Leben zu retten ihr gelungen war. Alle erkannten bei ihr eine besondere Gabe für Kinder, die sie einstimmig regelrecht vergötterten…

In einer Ecke diskutierten die Männer: Bonapart, Churchill und Lincoln. es war die Rede von der neulich versuchten Welpenentführung durch Edelweiß. Gott sei Dank, man gab ihr mildernde Umstände und der Skandal wurde im Kern erstickt. Außerdem politisch gesehen war es an die Zeit Gesetze einzuführen, die die Zweibeiner verpflichten sollten, einen Hundesprachkurs zu nehmen, zwecks einer besseren Eingliederung in die Hundegesellschaft… Wenn die Zweibeiner unbedingt in ihre Hundegesellschaft eintreten wollten, dann war es wohl das Mindeste, dass…

Aber… eine feuchte Nase berührt mich… Wo bin ich denn… und wo sind Actrice, Fenella, Filou und die anderen? Ich bin über dem Album eingeschlafen und die hübsche Grandezza hat mich geweckt! Sie scheint mir sagen zu wollen: „Geduld! Othello macht sich für Dich fertig!“. Und schon sehe ich die winzige rosa Schnauze – wie für meine Hand und das Streicheln geschaffen – das Näschen, die noch geschlossenen Augen, die kleinen noch kriechenden Beine… Ja, Othello ist nicht mehr weit…

Anmerkung der Autorin: Jegliche Ähnlichkeit mit lebendigen Zwei- oder Vierbeinern kann nur zufällig sein!

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